Emil Molt war als Mitbegründer und Geschäftsführer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart ein weitsichtiger Unternehmer in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, der 1919 in Stuttgart eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter eingerichtet hat, die erste Waldorfschule überhaupt.
Auszüge einer Rede von Christian Koch, gehalten auf der Veranstaltung „Erinnerung” im Rahmen der Festwoche zum 50-jährigen Bestehen der Emil Molt Schule:
Emil Molt wird als Vater der 1. Waldorfschule in Stuttgart bezeichnet. Wie kommt ein Unternehmer dazu, eine selbst verwaltete Schule nicht nur zu gründen, sondern bis zum Ende seines Lebens um das Wohl dieser und weiterer Schulen sich zu kümmern?
1876 in Schwäbisch Gmünd geboren, war Emil Molt schon im Alter von 13 Jahren nach dem frühen Tod seiner Eltern auf sich selbst gestellt. Er durchlief eine harte Ausbildungszeit als kaufmännischer Lehrling, wurde darauf von seinem Chef für einige Jahre nach Griechenland geschickt, um in einem bedeutenden Import- und Exportgeschäft den Welthandel kennen zu lernen und hatte dann im Alter von 30 Jahren den Mut, mit nur geringem Kapital die Zigarettenfabrik „Waldorf-Astoria” mitzubegründen. Der Name des Unternehmens geht auf das gleichnamige New Yorker Hotel zurück, das von dem in Nordamerika weithin bekannten Auswanderer Astor, der aus dem badischen Ort Walldorf stammte, aufgebaut worden war. Das weltweite Flair des Namens und die unermüdliche Tatkraft Emil Molts kamen der anfangs noch kleinen Firma offensichtlich zugute. Im Jahre 1919 zählte das Unternehmen etwa 1.000 Beschäftigte und besaß „einen klangvollen Namen für den gehobenen Rauchbedarf”; Emil Molt stand zu diesem Zeitpunkt als „Kommerzienrat” auf dem Höhepunkt gesellschaftlicher Anerkennung. So wird Emil Molt von Albert Schmelzer in seinem Buch „Die Dreigliederungsbewegung 1919” portraitiert.
1907 hatte Emil Molt Rudolf Steiner persönlich kennen gelernt, wurde Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, aber erst am Ende des 1. Weltkrieges wurde aus dem Unternehmer, der sich um das Wohl seiner Arbeiter und Angestellten verpflichtet fühlte (Erholungsheime für Angestellte und Arbeiter), ein Sozialreformer.
Bereits 1917 hatte Rudolf Steiner begonnen, die Anthroposophische Gesellschaft mit politischen Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft zu konfrontieren. Die Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus nahmen Gestalt an. 1918 ist das Jahr der November-Revolution in Deutschland. Vielleicht war sie nicht so revolutionär wie ihr Name, aber die militärische Niederlage war eine Niederlage der politischen Elite des Kaiserreichs – so entstand Raum für Veränderungen in den Hierarchien von Politik und Wirtschaft. In den Städten und Betrieben entstanden Räte. Selbstverwaltung statt Unterordnung, war die Devise. Der Unternehmer Emil Molt gehörte in Stuttgart dem Initiativkreis der Dreigliederungsbewegung an und versuchte in seiner Zigarettenfabrik Ideen der Bewegung in die Tat umzusetzen. Hier wurde, als erster in Württemberg, ein Betriebsrat gewählt. Seit Neujahr 1919 erschienen die „Waldorf-Nachrichten” und schufen 14-täglich eine betriebsinterne Kommunikation. Sehr zum Leidwesen des württembergischen Unternehmerverbandes, aber zur Freude des Stuttgarter Arbeiterrates propagierte er die Vergesellschaftung seines Betriebes. Trotz dieser Umtriebe blieb er im besten Sinne Patriarch seines Unternehmens. Zum Vorsitzenden des Betriebsrates ließ er sich selbst wählen und die Waldorf-Nachrichten hielt er durch ihre Verbreitung in den Kreisen der württembergischen Intelligenz auch für eine gelungene Werbung.
Ein anderes, zunächst unscheinbares Ereignis sollte große Folgen haben. Mitte November 1918 sprach Emil Molt bei einem Rundgang durch seinen Betrieb mit einem Arbeiter, dessen kleiner Sohn wegen seiner guten Fähigkeiten von der Volksschule in eine Höhere Schule versetzt worden war. Dabei konnte Emil Molt einerseits die Freude des Mannes erleben, der für sein Kind nun die Chance sah, das zu verwirklichen, was ihm selbst versagt geblieben war: bessere Bildung, Aufstiegsmöglichkeiten, eine vielseitige berufliche Tätigkeit. „An diesem Gespräch, das für den anderen vielleicht gar keine große Bedeutung hatte, entzündete sich bei mir der Gedanke einer Schulgründung …”, stellte Emil Molt 1925 rückblickend fest.
Vor der Schulgründung gab es seit Beginn des Jahres 1919 Arbeiterbildungskurse in der Waldorf-Astoria-Fabrik.
Und es gab Januar-Gespräche, zu denen Rudolf Steiner eingeladen hatte: „Das ist das Allerbrennendste, dass der Arbeiter nicht als Tier arbeitet oder als Maschine, sondern als Mensch. Er muss geistig interessiert sein.”
„Der eigentliche Geburtstag der Schule ist der 23. April 1919”, schreibt Emil Molt in seinen Erinnerungen. „Anschließend an jenen ersten Arbeitervortrag Rudolf Steiners in der Waldorf-Astoria hatten wir eine Betriebsratssitzung zusammen mit Dr. Steiner, in der ich von der Absicht, eine Schule zu gründen, etwas sagte und die Bitte aussprach, er möge die Einrichtung und Leitung der Schule übernehmen. Als finanzielle Grundlage hatte ich vom Reingewinn aus dem Jahr 1918 den Betrag von 100 000 Mark zurückgestellt. Ich war stolz auf diese große Summe und wurde etwas belämmert, als Dr. Steiner in aller Seelenruhe meinte: ,Das ist ja ein ganz netter Betrag.’ „
Die Suche nach Schulräumen war schwierig. „Anfangs hofften wir”, schreibt Emil Molt in seinen Erinnerungen, „es würde uns irgendein staatliches Gebäude überlassen werden. Die Hoffnung täuschte. Ich musste mir selbst helfen. Die Frage wurde brennend; denn die Schule sollte mit dem neuen Schuljahr im September eröffnet werden. Ich war mir klar, dass ich persönlich als Käufer des Schulhauses auftreten musste, weil der Firma ein Hauserwerb nicht zugemutet werden durfte.”
Die Schulgründung indes war nicht unumstritten. Am 5. Juli 1919 kommentiert der der USPD nahe stehende Sozialdemokrat: „Die Bestrebungen der Waldorfschule mögen gut und schön sein, aber wir können nicht zugeben, dass es der richtige Weg ist, auf dem die Schulfrage gelöst werden kann. Wir wollen die Erziehung des Volkes nicht in die Hände von Fabrikanten legen und seien sie auch noch so wohlwollend.”
Um seinen Entschluss zu verwirklichen, setzte Emil Molt seine persönliche und seine wirtschaftliche Existenz aufs Spiel. Er sicherte der Waldorfschule Grund und Boden und den finanziellen Bestand. So konnte er sich zu Recht als Vater der Schule erleben – schreibt Johannes Tautz im Nachwort von Molts Erinnerungen – der mit seiner Schöpfung geistig immer mehr zusammenwuchs, zumal er nach dem Willen Rudolf Steiners Mitglied des Lehrerkollegiums war. Vor allem in der Zeit nach Rudolf Steiner Tod und in erhöhtem Maß in den Jahren der deutschen Diktatur wirkte er – gemeinsam mit seiner Frau Berta – als Schützer und Förderer seiner Schule.
Besondere Bedeutung für die Biographie Emil Molts haben zwei Ereignisse des Jahres 1929: die Liquidation der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik und das zehnjährige Bestehen der Waldorfschule – in demselben Jahr der größte geschäftliche Rückschlag in seiner Laufbahn als Unternehmer und ein Höhepunkt in seiner Wirksamkeit für den Aufbau der Schule.
3 Gedanken aus seiner Rede zur 10. Jahresfeier der 1.Waldorfschule:
1. Wir wollten bescheiden, aber mit starkem Wollen beitragen zur Besserung der sozialen Verhältnisse. Es war wenig vorhanden, nur Mut und Wille, wenig Kinder, kein Gebäude, keine Lehrer, viel Arbeit!
2. Es kommt darauf an, dass wir ganze Menschen erziehen, solche, die nicht nur totes Kopfwissen haben, sondern vor allem soziales Empfinden für andere.
3. Ein Geist, der lebenstüchtig ist, soll die Pädagogik durchziehen. Richtunggebend sein soll das praktische Leben. Tief in die Vergangenheit hineingehen, weit in die Zukunft ausholen!
27. September 2002